GEHEIMNISVOLL

von Christian Deutschmann.

 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Dezember 2004

 

 

 
 

Im Frühjahr 2003 sorgte der Fund einer Archivarin im österreichischen Klosterstift Zwettl für Aufruhr in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft. Zwei Jahre zuvor war die Dame auf zehn beidseitig beschriebene Pergamentschnipsel gestoßen, aus deren Wortlaut und Schriftart sie schloß, es könne sich nur um Fragmente der ältesten Niederschrift des Nibelungenstoffes handeln. Von diesem sind bislang nur Fassungen überliefert, die ein Jahrhundert später entstanden. „Es wäre eine Sensation": Mit dieser damals geäußerten Bemerkung aus einschlägigen wissenschaftlichen Kreisen artikulierte sich sogleich jene Skepsis, hinter der Charlotte Ziegler, ebenjene wackere Archivarin, noch heute nur den Dünkel von Experten mit Rang und Siegel gegenüber ihr, der Außenseiterin, vermuten mag.

Inzwischen ist der Streit, in dieser Zeitung ausführlich dokumentiert und andernorts publizistisch weidlich ausgeschlachtet, ad acta gelegt. Von der Fachwelt als „abenteuerlich" klassifiziert, beharrt Charlotte Ziegler auf ihrer Position, ja gewinnt ihr immer wieder neue Aspekte ab. Gute Gelegenheit für einen Radioautor wie Michael Lissek, den kuriosen Umständen dieser Angelegenheit nachzugehen, und ihr genüßlich und mit leiser Ironie gleichsam ein Satyrspie] anzuhängen. Schon der Titel seines Features, „Zwettls Traum", spricht für sich. Gleichwohl nähert sich der Autor den Protagonisten mit einer sanften Aufgeschlossenheit, die ihnen nicht nur die jeweils geäußerten Ansichten zugesteht, sondern auch noch das eigentümliche Klima der Worte, des Satzbaus und der Tonfälle abhört. In ihr Tun vertieft, das Kollegen als „sternenguckerisch" abtun, bewaffnet mit UV-Licht, Scanner und dergleichen ist Charlotte Ziegler unterm Rascheln der Papiere beim Stöbern, Entziffern und triumphalen Entdecken zu erleben. „Sehen Sie nichts?" fragt sie den Autor, als sie den aussichtslosen Versuch unternimmt, ihm einige Geheimnisse der Schriftzüge augenfällig zu machen. Freilich gerät so auch die berufsbedingt herablassende Würde ihrer Gegenspieler, wie der renommierten Altgermanisten' Volker Mertens oder Joachim Heinzle, in leichte Schräglage. Ironisches Potential schließlich schöpft der Autor aus zwei Kinderhörspielen zum Nibelungenstoff, die er ausschnittsweise einschmuggelt und deren komisch hohles Pathos dem Thema jede Aura nimmt, ohne dessen Repräsentanten zu verunglimpfen. Von Denunziation also keine Spur. Statt dessen: ein überaus gelungener Versuch, dem Wissenschaftsbetrieb von heute intimere, vergnüglichere Aspekte abzugewinnen, als sie aus den meisten akademischen Disputen zu uns sprächen.

 

 

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